(Digitale) Souveränität
Letztendlich sind wir Menschen und keine Produkte. Die Hoheit über die eigenen Daten zu haben ist gleichbedeutend mit individueller Unabhängigkeit, Würde, Meinungsfreiheit und Demokratie, die sich aus der Bewegung des Humanismus heraus entwickelt haben.
Das Wort „Souveränität“ leitet sich aus dem französischen „la souveraineté“ ab. Nirgendwo auf der Welt wird das Thema digitale Souveränität so stark diskutiert, wie in Europa. Wahrscheinlich weil hier das Zeitalter der Aufklärung begründet wurde und es somit unsere ureigenen Grundwerte betrifft, oder auch weil der Konkurrenzkampf auf diesem Kontinent mit den vielen unterschiedlichen Kulturen immer schon enorm ausgeprägt war. Möglicherweise auch, weil der europäische Digitalmarkt von ausländischen Unternehmen dominiert wird. Das Problem ist nicht nur, dass kulturelle Unterschiede und abweichende Rechtssysteme aufeinanderprallen, sondern auch dass wirtschaftspolitische Interessenskonflikte aufkommen. Es gibt einfach keine einheitlichen Spielregeln und das führt unweigerlich zu Konflikten.
Obwohl die DSGVO den Digitalmarkt bereits EU-weit geregelt hat – das bedeutet nichts anderes, als dass freie, verantwortungsbewusste und mündige Menschen ihre Meinungen ohne Zwang bilden können und die persönlichen Informationen einsehen, korrigieren und jederzeit exportieren dürfen – und sich alle Marktteilnehmer daran halten müssen, gibt es bei den führenden Techkonzernen in letzter Zeit Tendenzen in Richtung Kartellbildung mit Vendor Lock-ins, denen Consumer ausgeliefert sind. Ausgerechnet „dank“ fortschreitender Digitalisierung der Gesellschaft und weil wir von Anbeginn an erzogen wurden, unsere privaten Daten als Währung einzusetzen, ohne für ein Service echtes Geld bezahlen zu müssen. Kurzum: Wenn du nicht für das Produkt bezahlst, bist du selbst das Produkt.
Auf der einen Seite hilft IT vielen Wirtschaftssektoren, autonomer, resilienter und effizienter zu werden, andererseits machen wir uns von der digitalen Welt komplett abhängig weil wir von den unbegrenzten Möglichkeiten fasziniert sind und immer mehr Lebenszeit in der digitalen Welt verbringen.
Im Allgemeinen müssen die Entwicklungen der vergangenen Jahre trotz zahlreicher positiver Disruptionen, die durch Digitalisierung hervorgegangen sind, kritisch betrachtet werden. Wir haben uns einer Handvoll von Tech-Plattformen bzw. „Tech-Bros“ ausgeliefert, deren Monokulturen groß gemacht und so ein Oligopol mit enormem Ungleichgewicht geschaffen.
Sogenannte „Influencer“ stellen Wahrheitsansprüche für die eigenen Ideologien über alles, wodurch Diskurse ins Extreme abschweifen. Außerdem ist toxisches Suchtverhalten bei vielen Jungendlichen durch den Konsum von sozialen Medien mittlerweile wissenschaftlich erwiesen.
Es versteht sich von selbst, dass all dies früher oder später Auswirkungen auf unser gesellschaftliches Zusammenleben hat.
Obwohl sie negative Begleiterscheinungen mit sich bringen, geht es jetzt nicht darum, einzelne Plattformen auszugrenzen, aufzuspalten oder gesetzlich verbieten zu lassen. Immerhin haben wir sie zu dem gemacht, was sie sind. Es geht darum, die Gesellschaft weiterzuentwickeln, aufzuklären und den richtigen Umgang mit IT zu erlernen und nicht zuletzt Alternativen aufzuzeigen, um einen gesunden Wettbewerb zu etablieren.
1. Standardisierung
International genormte auf offenen Standards beruhende Dateiformate ermöglichen Interoperabilität oder zumindest eine verlustfreie Konvertierungsmöglichkeiten zwischen Dokumenten und Systemen.
Man liefert sich so keiner einzelnen Insellösung aus. Dadurch wird sichergestellt, dass Dateien auch in Zukunft noch mit den entsprechenden Programmen geöffnet werden können.
2. Open Source Software
Open Source ist eines der besten Mittel für mehr Autonomie und Souveränität. Und nachdem Europas Kernstärken in der Freiheit, der Vielfalt und der Kooperationsfähigkeit aller hier lebenden Menschen liegen, ist unser Wirtschaftsraum dafür geradezu prädestiniert.
Wahrscheinlich haben genau deshalb viele großartige Open Source Projekte wie Linux, PHP, MySQL, WordPress („bs/cafelog“), Drupal, Typo3, Nextcloud, LibreOffice („StarOffice“), OpenStreetMap, uvm. ihren Ursprung in Europa bzw. sind auf Initiative von Europäern gegründet worden.
3. Accessibility
Souveränität im Sinne von Selbstbestimmungsfähigkeit betrifft auch das Thema Barrierefreiheit weil nur so sichergestellt wird, dass möglichst alle Menschen, unabhängig von einer Behinderung oder Beeinträchtigung, am Markt teilhaben können.
Auch digitale Daten müssen durch assistive Technologien gelesen und entsprechend aufbereitet werden können.
Universelles Design ist ein Prozess, der die Bedürfnisse möglichst aller Menschen berücksichtigt und Diskriminierung vermeidet.
Der value-based engineering Ansatz hat als Ziel, praktische Lösungen zu entwickeln, die die Anwender:innen in den Mittelpunkt stellen und diese somit als Souverän verstehen.
4. Social Media
Soziale Netzwerke sind, wie schon angemerkt, Segen und Fluch zugleich. Zum einen sind sie ein Wachstumstreiber des Internets geworden und haben viele nachhaltige Entwicklungen erst ermöglicht, zum anderen machen sie das Web kaputt weil sie ohne Rücksicht auf Verluste alles Alteingesessene verdrängen und wortwörtlich viel sinnbefreiten Müll produzieren.
Die Souveränität der User wird konterkariert weil sie in sog. Bubbles („Filterblasen“) gefangen und mit Appeasement und Selbstbeweihräucherung manipuliert werden. Auch wenn es kurzfristig befriedigend und bequem sein kann, die eigene Meinung bestärkt zu bekommen, schränkt dieser Umstand langfristig den Horizont ein und schafft Echokammern.
Microtargeting teilt Personen in demographische, religiöse, politische und andere Zielgruppen ein und treibt so die Kommerzialisierung privater Daten auf die Spitze.
Gebote für die besten Werbeplätze, deren Preisgestaltung sich nach Angebot und Nachfrage richtet, versprechen den Käufern Propaganda-Werkzeuge, um die allgemeine Meinung zielgenau zu beeinflussen.
Diese Form des Marketings schafft jedoch ein destruktives Umfeld und hat das Potential, demokratische Strukturen auszuhöhlen, weil Diskurse ins Extreme abdriften können. Am Ende ist das oberste Bestreben aller Social Media Anbieter, die Datenströme mittels Algorithmen ihren politischen Anforderungen entsprechend zu lenken. Und wenn Faktenchecks und Diversitätsmanagement nicht mehr zum Zeitgeist passen, werden diese einfach abgeschafft.
Ein Ausweg aus dem Dilemma können dezentrale soziale Netzwerke sein, die über verschiedene Provider verteilt sind aber gleichzeitig Kompatibilität und Austausch untereinander gewährleisten.
5. Cloud
Vor nicht einmal 20 Jahren wurde jegliche Nicht-Standard-Software noch teuer und ineffizient „in-house“ entwickelt – einfach weil es keine andere Möglichkeiten gegeben hat und die Auswahl an verfügbaren Applikationen überschaubar war.
Mitte der 2000er Jahre haben dann die ersten ersten Internet-Plattformen den Onlinespeicher-Markt mit zum Teil kostenlosen Basisversionen oder günstigen monatlichen Abrechnungsmodellen aufgemischt. Die sogenannten „Hyperscaler“ waren geboren.
In letzter Zeit gibt es im Change- und Risk-Management von Unternehmensumfeldern jedoch wieder vermehrt Tendenzen, gewisse Bereiche in die eigene Einflusssphäre zurückzuholen weil die abstrakte „Cloud“, wie sie von großen Providern bereitgestellt wird, eben kein Allheilmittel ist und auf lange Sicht intransparent, ineffizient und sogar von geopolitischen Entwicklungen nicht verschont bleibt. Auch willkürliche Preiserhöhungen wirken sich negativ auf die Unternehmensplanung aus.
Von der ursprünglichen Idee, externen Speicherplatz und sichere Backup-Lösungen anzubieten, um verteiltes Arbeiten zu ermöglichen, ist zumeist nicht mehr viel übrig. Datenschutzbedenken, KI-Training mit privaten Daten und nicht zuletzt das lästige Nudging, also das gezielte Anpreisen oder die standardmäßige Aktivierung von unnötigen Features, tragen ihren Teil dazu bei, sich nach neuen Lösungen umzuschauen.
6. Netzneutralität
Datensouveränität bedeutet im weitesten Sinne auch, den Zugang ins WorldWideWeb neutral zu behandeln und ohne Diskriminierung zu ermöglichen.
Das Internet muss weiterhin ein zuverlässiger Innovations- und Wachstumsmotor bleiben.
Fazit und Ausblick
Digitale Transformation soll das Leben (immer) einfacher machen. Monopolstellungen geschlossener Systeme durchkreuzen jedoch diese Entwicklungen, weil kapitalgetriebene Geschäftsmodelle ohne ausgleichendes Gegengewicht Bürokratiesilos hervorrufen, die alles daran setzen, den Status Quo aufrecht zu erhalten und letztlich gesamtwirtschaftliche Effizienzverbesserungen, die mit sinnvollem Einsatz von Technologie erreicht werden könnten, zunichte machen.
Entscheidungsträger:innen sollten sich folgende Fragen stellen:
- Wie steht es um das geistige Eigentum? Kann ich darauf vertrauen, dass Informationen ausschließlich zweckgewidmet verarbeitet werden?
- Kann ich gegen eine Weitergabe meiner Daten an Dritte Einspruch erheben?
- Wird es mir einfach gemacht, Daten einzusehen und diese jederzeit exportieren oder im Bedarfsfall sogar löschen zu können?
- Wie sichere ich kritische Infrastruktur ab? Begebe ich mich in ein (wirtschaftliches) Abhängigkeitsverhältnis oder kann ich mich jederzeit davon lösen?
- Gibt es Alternativen oder sind On-Premises-Lösungen und private Clouds vielleicht sogar einfacher und darüber hinaus günstiger zu betreiben?
Auch der richtige Umgang der Anwender:innen mit dem eigenen Medienkonsum muss gelernt sein und ggf. im Rahmen von Kursen und Schulungen vermittelt werden:
- Was veröffentliche ich wo?
- Welche Inhalte konsumiere ich? Wem folge ich?
- Was sind Algorithmen?
- Verlinke ich bestimmte Postings lieber zu Ressourcen, die ich selbst in der Hand habe?
- Wo lade ich heikle Daten hoch?
- Wenn ich ein Produkt oder eine Dienstleistung verkaufe, mache ich das über einen Online-Händler oder (zumindest zusätzlich) über die eigene Website?
Kurzfristig mag der Schritt weg von gewohnten Pfaden und mit der vermeintlichen Sicherheit eines Big Players im Hintergrund, unbequem und mühsam erscheinen. Eine gewisse Portion Idealismus schadet dabei auch nicht. Und der grundlegende Wille zu Souveränität sollte vorhanden sein weil es ohne die „Extrameile“ nicht gehen wird.
Logische Folge sollte sein, sich auf die Ursprungsvisionen der Digitalpioniere zu besinnen und das Internet wieder back-to-the-roots zu bringen.
Open Source Software und Offene Standards spielen hier eine große Rolle. Die Bildung und hier in erster Linie die digitale Medienkompetenz bzw. das kritische Hinterfragen muss allgemein verbessert werden. Initiativen, die einen sicheren, kompetenten und verantwortungsvollen Umgang mit digitalen Medien propagieren, müssen weiter unterstützt werden.
Bei all dem muss natürlich auch die Politik mit ins Boot geholt werden, weil nur sie die finanziellen Mittel aufstellen kann und nur Gesetze die technischen Maßnahmen wie Mindestanforderungen an die Infrastruktur regeln. Politische Entscheidungen haben also direkten Einfluss auf die föderale IT-Landschaft und die internationale Wettbewerbsfähigkeit.
Es gibt aktuell den Trend, die eigene Website oder den persönlichen Blog als „digitalen Garten“ zu sehen. Darunter versteht man den äußerst befriedigenden Ansatz, ganz ungezwungen und unvoreingenommen, Ideen und Wissen anzuhäufen oder einfach nur die eigenen Gedanken aufzuschreiben und interessante Themen zu reflektieren. Im kleinen Umfeld, ohne Followern gefallen zu müssen oder sich etwaigen Zensurmaßnahmen auszusetzen. Auch das kann ein erster Schritt hin zu mehr digitaler Souveränität sein.
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